Psychotherapie als Beruf |
Einblick in den psychotherapeutischen Alltag ©pixabay Ich bin Tiefenpsychologin und zertifizierte, zugelassene EMDR-Therapeutin. Meine KlientInnen finden mich über Empfehlung, die Therapeutenliste von Emdria, das Arztregister usw. . Sie finden mich aber nicht in der Liste der TherapeutInnen der KV. Ich habe dort schon vor Jahren durchgesetzt, dass man meinen Namen nicht als einen derer weitergibt, wo es angeblich einen freien Therapieplatz gibt. Ich will nicht Teil des Lügen- und Beschäftigungsspiels sein, dass mit dieser Liste gespielt wird. Ich will nicht die Nummer 75 sein, die angerufen wird von Menschen in größter Not und mit resignierter Hoffnunsglosigkeit in der Stimme. Ich will nicht unvermeidbar häufig den Text von der Unterbesetzung, der Lüge mit dem gedeckten Bedarf, dass ich keinen Kollegen kennen, bei dem es anders wäre und dem Vertrösten sprechen müssen. Es mangelt mir trotzdem nicht gerade an Nachfragen. Um 7:30 Uhr bin ich in der Praxis, Rolläden hoch, lüften, Licht anmachen, eine Kleinigkeit aufräumen, Heizung nachregeln, Kaffeemaschine anstellen, ein Blick in den Kalender für das gesamte Tagewerk - irgendwas Besonderes? - nur jemand für die Sprechstunde, ein kurzer politischer Gedanke in verärgerter und frustrierter Tönung in Vorwegnahme dessen, was ich mir dann wieder mal werde anhören müssen, dann PC hochfahren und mich auf die erste Patientin einschwingen. Dies ist die zweite Sprechstunde einer Patientin mit ausgeprägter, seit Jahrzehnten andauernder, qualvoller Hypochondrie. Sie kam auf Drängen einer Freundin, deren Freundin schon bei mir war. Ich habe eine Hypothese zu ihrem Leiden, nachdem ich sie in der ersten Stunde erstmal nur habe erzählen lassen. Schon da war sie richtig baff, dass sie weder ausgelacht, noch verurteilt wurde, dass sie nicht allein mit ihrer Angst ist und dass sie gut behandelt werden kann. Und sie ging angstvoll, denn ich hatte ihr noch einmal gesagt, dass ich bis übernächstes Jahr keinen Therapieplatz für sie haben werde. Es ist das dritte Mal, dass ich es ihr sage. Einmal am Telefon, einmal im Anschreiben vor der ersten Sprechstunde. Wenigstens die drei Sprechstunden will sie aber haben. Heute also lenke ich sie zügig auf die innere Forschungsreise hin, was denn wäre, wenn sie eine der gefürchteten Krankheiten nun wirklich hätte. Angstvoll weiten sich ihre Augen, der Herzschlag geht sichtbar höher, die Halsschlagader pulsiert. Also was wäre dann? Sie tastet sich heran und mit beruhigendem Ton führe ich sie zurück. Da ist schon die Quelle des Elends gefunden. Da ist sie also wieder, die Traumafolgestörung. Diesmal gekleidet in die panische Angst davor schwer krank zu sein und wieder an einen "Metzger" im Krankenhaus zu geraten, wie damals mit 5. Okay, erstmal Stabilisierungstechniken einsetzen, dass die limbische Aktivierung zurückfährt und sie ins emotionale Toleranzfenster zurückkehrt. Den Deckel auf die Erinnerungen, Screentechnik, Tresortechnik. Als sie wieder aufnahmebereit ist, folgt der Teil mit der Psychoedukation. Wie geschieht Trauma, was ist das, wie geht die Heilung. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht: Sollte es möglich sein, dass dieser Terror ein Ende haben kann? Ja, es ist möglich. Wie das genau geht, verspreche ich ihr in der nächsten Sitzung zu erklären. Und dann werde ich sie nach Hause schicken, nachdem sie auf meiner Warteliste den Platz 22 eingenommen hat. Ich werde sie auf das Kostenerstattungsverfahren, Traumakliniken und die Therapeutenliste von Emdria hinweisen. Und dann wird sie heimgehen und weiter leiden, weil ich keinen Platz für sie habe. Ihr Leiden wird weiter chronifizieren und sich noch etwas fester in ihrer Psyche einbeißen. Wenigstens Hoffnung wird sie dann haben, aber was wird ihr das helfen, wenn die Todesangst sie in ihren Würgegriff nehmen wird? Und ich werde sie anrufen, wenn jemand krank wird. Versprochen. Auf meiner Nachrückerliste sind 10 Leute, die auf die akute Erkrankung eines anderen warten. Anrufen nach Reihenfolge. Abrechnung über Gesprächziffer. So hängen sie alle am seidenen Faden... Wer kommt jetzt? Protokoll von letzter Woche lesen - ahja - ich wollte ihr die Papiere für den Verlängerungsantrag mitgeben. Also schnell PTV 1 ausdrucken, Konsiliarbericht ausfüllen, den Fragebogen zum Therapieverlauf und die Checkliste für den Antrag dazu und das ganze Päckchen auf meinen Sessel legen. Es klingelt. Diese junge Frau kommt schon lange. Schwer, früh, komplex traumatisiert. Wir haben schon eine lange Geschichte miteinander. Zwei Kinder hat sie in der Zwischenzeit geboren. Das erste ein Vergewaltigungskind. Sie kam zu mir hochschwanger. Der Kleine triggert sie nun in seinen kindlichen Wutanfällen. Wird er sein wie sein Vater? Zieht sie ein Monster heran? Ich jongliere zwischen Erziehungsratgeberei, Impulskontrolltechniken und Therapieplanung. Wir müssen mit dem Prozessieren weiterkommen (das ist der Teil des EMDR, wo das Trauma wirklich aufgearbeitet wird - härteste Arbeit für die Klientin) Aber das Kontingent wird knapp. Auch mit der 120. Sitzung werden wir nicht "fertig" sein. Wieder nicht. Wieder wird es eine gnadenlose Ablehnung durch den Gutachter geben, er wird wieder eine Pause einfordern, das Ende der Therapie verlangen. Wieder werden wir zwei Jahre überbrücken müssen. Mit unterbezahlten Gesprächsziffern, denn die Opferentschädigung wurde abgelehnt. Der Täter ist freigesprochen worden, weil sie sich nicht ausreichend gewehrt hätte. Nachdem er die Tür eingetreten, ihren Hund erschlagen und die Wohnwand umgeworfen hatte. Ohne Urteil kein OEG. So isses. Immerhin hat sich inzwischen die Rechtssprechung geändert, Silvester in Köln sei Dank, auf einmal gings.......Diesmal werden wir eine Akuttherapie einschieben können - 12 Tropfen auf den heißen Stein - die dann auch noch vom neuen Kontingent nach der Zwangspause abgezogen werden. Sie geht etwas gewappnet, aber gelöst ist garnichts. Sie wird wieder zu oft zu heiß duschen und ihren Vierjährigen immer wieder kurz allein in seiner Wut stehen lassen müssen, um nicht selbst handgreiflich zu werden. Hoffentlich. Wer kommt jetzt? Ach der Gehörlose aus Oberhausen, der um 5 Uhr morgens in den Zug steigt und erst am Nachmittag wieder Zuhause sein wird. Wer kann schon in Deutscher Gebärdensprache therapieren? Zumindest bemühe ich mich und die Gehörlosen nehmen, was sie kriegen können. Er braucht sein festes Ritual: Nach der Reise auf ein sauberes Klo, ein frischer Kaffee mit Hafermilch und vor der Stunde meinen Hund streicheln. Dann hat er die Reise abgeschüttelt und kann sich einlassen. Über fehlende Vokabeln lachen wir, improvisieren mit Schreiben und Umschreiben. Da passt nicht viel in 50 Minuten. Aber er muss superpünktlich weg, den Zug darf er auf keinen Fall verpassen. Aber er versteht heute, dass Wut an sich nichts Böses ist, sondern einem Zweck dient und wir nur an der zivilisierten Ausdrucksform feilen müssen. Konnte ihm das wirklich niemand sagen in den letzten 44 Jahren? Nummer vier lässt auf sich warten. Ich checke das Handy, ah ja per SMS die Info, dass sie im Stau steht. Ich nutze die Zeit nach meinem obligatorischen Protokoll-und-Leistungseingaberitual, um meine Hühner zu begrüßen. Ein kurzes Aufatmen im Garten. Die Klientin kommt 8 Minuten nach Stundenbeginn und ich sage, was ich dann in der Art immer sage: Schade um die fehlende Zeit, da müssen Sie heute etwas schneller reden. Meine KlientInnen wissen, dass ich um 10 vor Schluss mache, egal, wann sie gekommen sind. Naja, meistens jedenfalls. Ein Überziehen rächt sich dann den ganzen Tag, alles verschiebt sich. Da ist also keine Luft drin. Aber wir können pünktlich sein, denn hier steht nur die Besprechung eines Befundes an, den ich im Auftrag der Bundesagentur für Gedöns geschrieben habe. Viele Stunden Arbeit letzten Samstag. Ich habe mir wieder den Spaß erlaubt, auf dem Rechnungszettel den Mindestlohn einzufordern, anstatt den festgelegten Betrag einzutragen. Auf 3,20 € pro Stunde komme ich, aber das Porto darf ich ja auch noch abrechnen, das kriege ich sogar wieder. Nichts davon kriegt meine Klientin mit. Sie fühlt sich verstanden und gesehen in meinem Geschreibe. Dafür arbeite ich doch, nicht etwa für das Geld. Wer dächte denn sowas? Trotz der Gartenpause vorhin habe ich nun einen Durchhänger. Es könnte für heute genug sein, aber es kommen noch zwei. Zum Glück ist die Nächste eine ADHSlerin. Da steht Wachsein an. Ihr Redeschwall erledigt das sofort. Hier sind meine strukturierenden Fähigkeiten gefragt. Den roten Faden in all dem Geschwurbel nicht verlieren, sich von der körperlichen Unruhe nicht anstecken lassen. Irgendwann bittet sie um meinen Kuschelhund und der fährt sie wie immer zuverlässig herunter. Sie seufzt und kommt zu sich. Kann über die Angst sprechen, sie sogar zeigen, auch diesen Arbeitsplatz wieder zu verlieren durch ihre "schnelle Zunge" und das Übersehen der wichtigen sozialen Signale im Gegenüber. Wir üben das anhand meiner eigenen Gegenübertragung und sie staunt. Am Ende müssen wir noch klären, woher sie ihr Methylphenidat in Zukunft bekommen kann. Der Hausarzt gibt es ihr nicht mehr, passende Psychiater sind so häufig, wie Schnee im August. Sie wird weit fahren und lange auf einen Termin warten müssen. So viele "glauben nicht an ADHS bei Erwachsen". Glauben nicht! Verdammt. Auch gegen Ende dieser Stunde habe ich es mal wieder ständig aus dem Büro klingeln hören. Minütlich ruft jemand seit viertel vor an. Ein Profi, der weiß, was "Ich bin kurz vor jeder vollen Stunde am wahrscheinlichsten erreichbar" bedeutet. Das Klingeln dring durch die geschlossene Tür und ich führe bei der Gelegenheit noch vor, wie es aussieht, wenn man sich nicht ablenken lässt. Die ADHSlerin kann es kaum aushalten, dass ich nicht aufspringe. Sie drängt mich, doch ans Telefon zu gehen. Nein, sie ist gerade der Mittelpunkt meiner Welt, sie hat noch ein paar Minuten ihrer Stunde. Die teile ich nicht. Dies ist nicht nur eine Chance für Modelllernen, es wärmt auch ihr Herz. Der Abschied fällt ungewohnt ruhig aus, diesmal nicht noch schnell 10 Dinge auf dem Weg hinaus angesprochen. Als die Tür ins Schloss gefallen ist, gehe ich beim nächsten Telefonklingeln ran. Wieder hat sich jemand nicht von meinen klaren Worten auf dem Anrufbeantworter abschrecken lassen. Ich mache eine Sprechstunde aus, die nächste freie, also 6 Wochen später. Es klingelt mit dem Glockenschlag. Zum Glück muss ich die Karte dieses Klienten noch einlesen. Ich lese noch schnell das Protokoll des nächsten Klienten von der letzten Stunde. Er wartet still und unbeweglich im Therapieraum. Ohje, da sah es nicht so gut aus. Ich muss ihn heute festnageln in Sachen Suizidalitätsvertrag. Der letzte. Rezidivierende depressive Störung im tiefsten Keller. Monoton klagend, schweigend, ohne in Kontakt mit mir zu gehen. Kein Blickkontakt. Darüber "kriege" ich ihn. "Schauen Sie mich an!" Ich bin auch nur ein Mensch. Aber ein Mensch. Und er kommt zumindest für den Augenblick von seinem einsamen Stern zu mir herunter. Wie ist das mit der Todessehnsucht im Moment? "Schauen Sie mich an, ich möchte wissen, ob ich mich auf Sie verlassen kann." Ich kann. Um meinetwillen. Um der Bindung willen. Womit verdiene ich es eigentlich, so wichtig zu sein? Aber ich bin es Hier und Jetzt und dem stelle ich mich. 14 Uhr. Licht aus. Ich fahre in den Wald und vergesse den Vormittag zwischen Bäumen und spielenden Hunden. Um 16 Uhr sitze ich am Schreibtisch bis 18 Uhr etwa. All der endlose Kleinkram, den uns die stetige Entbürokratiserung einbringt. Noch eine Runde mit den Hunden oder die Chorprobe, etwas facebooken oder zum Sport. Psychohygiene in allen Facetten. Ich weiß bis heute nicht wie ich es mache, aber mir geht der Tag in aller Regel nicht nach. Ich glaube vor allem, weil ich das Aufblühen sehe und nicht das leere Feld. Ja, das ist es. Und das ist schwieriger geworden seit 4/17. Denn die Wartelistenleute, die gehen mir nach. Ich weiß, was die aushalten müssen, nur weil es keinen Platz für sie gibt. Und die, die sich nicht auf die Liste schreiben lassen, weil sie nicht glauben, dass sie das Warten sowieso nicht aushalten werden. Bei diesen Leuten kann ich am Erblühen nicht mehr teilnehmen, sie werden zu einer gesichtslosen Masse. Aber morgen, da gehe ich wieder in meinen Garten und werde den Wachsenden zusehen.
Danke
Stephanie Shirazi |
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